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Idylle war das alles nicht! – Eine Dekonstruktion vom blonden Michel aus Lönneberga

Ist Kindheit per se eine idyllische Zeit? Verklären wir in der Rückschau die kinderliterarischen Settings unserer frühen Geschichten? Oder gilt dies nur für die Erinnerungen an die Kinderbücher der 1960er Jahre - noch bevor die Problemorientierte Kinder- und Jugendliteratur uns auf die Härten des realen Lebens vorbereitete? Wie idyllisch war das, was wir gelesen haben?


Heute erreichte mich ein Call for Paper einer meiner ehemaligen Promovendinnen: Zur Idylle in der Kinder- und Jugendliteratur. Ein breites Spektrum an möglichen Themen wird entfaltet, begonnen bei den Klassikern, aber auch in origineller Weitung bis in die aktuelle Medienwelt – Comics, Filme, Serien – bis hin zu Computerspielen. Ali Mitgutsch darf auch dabei sein, kürzlich verstorben – aber, ja, seine Wimmelbücher mit den pinkelnden kleinen Jungen irgendwo in der Wimmellandschaft von Bauernhof, Baustelle, Stadt etc., das war auch irgendwie Idylle. Gedanklich bin ich eigentlich gerade bei anderen Themen – Intersektionalität, Demokratiebewusstsein etc. – da wird dieser Call for Paper an mir vorbeiziehen. Aber da er mich vor dem Strandspaziergang per Mail erreichte, hatte das Hirn dann in meiner Realidylle an der südniederländischen Küste etwas zu tun, während man Kilometer um Kilometer durch die Polder ging, an den Anglern vorbei, die freilaufenden Hunde im Blick, damit sie den eigenen nicht zu nah kamen. Wo war meine Idylle in Texten der Kinder- und Jugendliteratur? Gab es eigentlich Sehnsuchtsorte? Zunächst denkt man, ja – und will den aufgelisteten Beispielen zustimmen: Jim Knopf bei Michael Ende….Die Texte von Astrid Lindgren….


(C) GMB_Eigenes Foto


Wie war das bei Michel aus Lönneberga?


Aber stimmt das wirklich? Nehmen wir mal Michel aus Lönneberga: Wir verbinden ihn alle mit dem niedlichen blonden Jungen der Verfilmungen, ein ganz goldiger Lausbub, einer von der wirklich lieben Sorte. Die gemalten schiefen Häuschen im Buch sind genauso nett wie der filmische Katthult-Hof. Wenngleich niemand heute in solchen Verhältnissen leben wollte – wo Lina in der Küche auf einer harten Küchenbank schläft, in deren Sitztruhe ihr ganzes Hab und Gut untergebracht ist. Wo faule Zähne nicht vom Zahnarzt gezogen – geschweige denn, prothetisch ersetzt werden, es keinen Krankenwagen gibt, man dem Knecht resignativ bei der Blutvergiftung zugeschaut hat. Wo Menschen in unwürdigsten Verhältnissen und unter korrupter Leitung im Armenhaus vegetieren. Und wo es dem süßen kleinen Michel oft an den Kragen gehen soll – vom eigenen Vater, dem er sich nur mit Mühe in den Schuppen entziehen kann.


Schläge – auch wenn man sie nie ausgeführt bekommt – schweben immer wie ein Damoklesschwert über Michels Kindheit. Dauerangst. Glück war immer, dem Unglück entkommen zu sein.

Knirpsschweinchen behalten zu dürfen, das Pferd Lukas. Das waren die wirklichen Freunde von Michel – nicht seine Familie. Auch bei der wiederholten Lektüre des Buches stellt sich immer wieder der Eindruck ein: der einzig Helle in dieser Familie ist Michel. Über Klein-Ida, Lina, Krösa-Maya und Frau Petrell oder die Maduskan braucht man sowieso nicht reden, der Vater bleibt ebenfalls verhältnismäßig stereotyp. Wir wissen, dass er aufbrausend reagiert und vor Gewalt nicht zurückschreckt, dass er sparsam bis geizig ist und nach außen hin gern das Sagen behält. Alfred, der gute Knecht, ist zwar Michels großer und treuer Freund – aber er ist selten überlegen und damit auch kein wirklicher Halt für den Jungen. Intellektuell scheint ihm Michel immer überlegen. Die Mutter meint es gut, liebt ihren Michel, schützt ihn, so gut es geht, vor den Übergriffen des Vaters, aber die Texte in ihren blauen Schulheften zeigen, dass auch sie sich eigentlich überfordert fühlt vom kleinen, blonden Pfiffikus. Ist der Tischlerschuppen eine Idylle? Ist es idyllisch, irgendwo allein sein zu können, ohne geschlagen zu werden – und dank eiserner Essensreserven nicht hungern zu müssen? Und dabei kontemplativ Holzmännchen zu schnitzen? Alle möglichen Idyllen werden in Michels Kindheit immer wieder zerstört – durch plötzliche Missgeschicke, Krankheiten, drohende Strafen. Die Idylle ist bei den Lesenden – die in der eigenen warmen Stube sitzen und – hoffentlich – keine Schläge fürchten müssen und sich auch keine Suppenschüssel über den Kopf ziehen. Deren Eltern krankenversichert sind und – Perspektive heute – wo die Eltern weder selbst schlachten noch so etwas Grausiges anrühren und zu Essen machen wie Blutklöße. Bei der letzten Lektüre aus Michel in meiner Vorlesung sah ich sicher nicht nur die veganen oder vegetarischen Studierenden voller Entsetzen das Gesicht verziehen.


Wo ist die Idylle versteckt?


Das „Andere“ ist uns hier die Idylle, auch die Freude darüber, dass wir uns die netten Fischerhemden und Hosenträgerhosen anschauen können, die runde, warme, mütterliche Michel-Mutter als Super-Hausfrau agieren sehen, unfassbar, was sie alles zubereitet! Die schwedischen Seen, die hübschen roten Häuschen. Keine Autos, nur Pferdekutschen, ein Leben ohne technische Medien, ein Leben, so ganz anders als unseres. Die Idylle – das ist das Andere. Historischer Exotismus. Nicht, weil es per se besser wäre als unser Leben, sondern weil es uns heute ermöglicht, aus unseren Alltagsproblemen auszusteigen, eine Welt zu sehen, die andere Probleme hatte, die wir heute gottseidank meistens nicht mehr haben. Eine westlich-bürgerliche Rezeptionsperspektive. Für Kinder aus dem Nahen Osten, Afrika, Afghanistan und vielen anderen Krisengebieten mit ihren Schrecken von Krieg, Hunger, Gewalt, Unterdrückung und, und, und – ja, für diese Kinder wäre das wirklich eine Idylle.


Der Strandaufgang rückt näher.


Bleibt denn wirklich nichts übrig von Michel, was ich heute als „Idylle“ bewerten würde? Doch! Die Tatsache, dass dieser kleine Kerl später Gemeinderatspräsident wurde – etwas „sehr Feines“, wie die Erzählfigur vermittelt – dass sich tatsächlich ausgezahlt hat, dass er all das riskiert hat.

Sein Mut, sein Einfallsreichtum, seine hohe soziale Kompetenz, sein unerschütterliches Gerechtigkeitsempfinden, seine Zivilcourage. Das ist eine Idylle, die bei mir in Erinnerung bleibt. Es gibt sie, die Helden, deren Resilienz sich lohnt. Insofern ist „Michel aus Lönneberga“ ein sozial-moralischer und biographischer locus amoenus!

#Idylle #Kinderliteratur #MichelausLönneberga

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